Gott nach zehn Uhr
Von Ali al-Jallawi Das Gebäude der Staatssicherheit Die erste Verhaftung der Möwe
Es mag drei oder vier Uhr sein, vielleicht irgendwo dazwischen... Warum versuche ich die Uhrzeit genau zu bestimmen? Verflucht sei die Stunde, die meine Bewegung, meinen Schlaf und meine Mahlzeiten reglementiert. Auf der Uhr waren nur Punkte zu erkennen... Vermutlich, ist es besser so... Ist es nicht so? Ich hörte heftiges Klopfen an der Haustür, sprang hoch, rieb mir die Augen und blickte durch das Fenster meines Zimmers in den Innenhof. Verstört schickte sich mein Vater an, die Tür zu öffnen. Eine Schar Grünuniformierter strömte herein. Ihnen voraus gingen einige Männer in arabischen Gewändern, deren Gesichter mit weißen Kopftüchern verhüllt waren. Mir schien, als habe Gott uns die Schergen seiner Hölle geschickt. Ehe ich es begreifen konnte, stürmten sie in mein Zimmer, und ohne ein Wort zu verschwenden, das ihre Stellung hätte herabmindern können, begannen sie, alles zu durchwühlen. Jawohl, alles. Ich weiß, was Sie sich jetzt fragen: Ja, sie haben sogar mein bestes Stück abgetastet.
Ich fand mich in einem kalten Zimmer mit zwei Tischen wieder. An einem saß ein Polizist aus Balutschistan. Ich hörte es an seinem Akzent. Ab zehn Uhr wusste ich nicht mehr, was vonstatten ging. Mein Blut war ins Erdgeschoss meines Körpers abgesackt, und mein Bewusstsein hatte sich krank gemeldet. Genauso wie wir es taten, wenn wir nicht zur Arbeit erschienen, damit uns kein Geld vom Gehalt abgezogen würde... Beim Betrachten des Wortes „ma’aasch“ (Gehalt) stellt man fest, dass man es entsprechend seiner Kernaussage trennen kann: ma – ’aasch: er hat nicht gelebt.
Doch ich pfeife auf euch. Auch ich werde mich nicht entschuldigen. Gewiss, ich bin weder ein proletarischer Revolutionär noch ein weltbedeutender Anführer. Aber ich kann auf euer primitives Geschwätz verzichten. Ich werde mich nicht von einer Sklaverei in eine andere begeben; die Sklaverei eurer Auslegung.
Ich weiß, dass ihr mich verachten werdet. So wie ihr alle verachtet, die euch die Wahrheit verraten, wenn sie den Glauben an sie und ihre eigene Dummheit verlieren. Möglicherweise werdet ihr auf mich schießen, weil ich meine, ich sei dabei, mich zu befreien. Möglicherweise ermutige ich euch sogar dazu, dasselbe zu tun. Es kann auch sein, dass ihr mich kreuzigt und einer von euch im Nachhinein meine Ideen verbreitet. Ich fange an, mich vor der für euch unerträglichen Wahrheit zu fürchten. Ich beginne, euch kennenzulernen, jenseits eurer Parteizugehörigkeit, dem langen Bart oder einer auf eurem Haupt befestigten Krone. Ich habe keine Lust zu sterben und euch zu befreien, damit ihr hinterher einer anderen Sklaverei verfallt.
Doch ich trete der Macht eurer Dummheit entgegen, euren für mich vorgefertigten Beschimpfungen und eurer nackten Angst um die Sicherheit eurer Überzeugungen und eures Glaubens. Ich bin weder eine Bedrohung für eure geistigen Systeme, noch interessieren mich eure geheiligten Götzen. Ich möchte mich nur beschwingt von den vielen in mir eingenisteten kleinen belastenden Dingen befreien. Mit erhobener Stimme versuche ich bloß, den mir zustehenden Platz im öffentlichen Leben zu erfassen. Und möglicherweise erleichtere ich euch damit eure Aufgabe... Ich war weder an einer Verschwörung gegen jemanden beteiligt, noch habe ich Macht von euch gefordert. Ich habe lediglich ein Problem. Ein Problem, das euch nichts angeht. Mein Problem ist, dass ich weder gläubig noch dumm bin.
Auf einmal bemerkte ich, dass meine großartige Rede alle kalt gelassen hatte. Unbeeindruckt gingen sie an ihre Schreibtische zurück. Nur Khan sah mich sichtbar verwirrt an. Nachdem er aufgehört hatte, mich anzustarren, wand er sich dem Polizisten am Schreibtisch neben mir zu. Aber dieser war damit beschäftigt, Buchstaben in Kästchen zu setzen, die ebenso leer waren wie sein Kopf... Von dieser Tätigkeit völlig in Anspruch genommen, dachte er nach. Ironischerweise erfuhr ich später, dass mein Freund Khan des Arabischen nicht mächtig war. Anscheinend war meine großartige Rede völlig umsonst gewesen.
Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus, wo sie sich vergewissert hatten, dass ich imstande war, die Untersuchung körperlich und psychisch durchzustehen, ließen sie mich bis zehn Uhr nachts stehen. Von Zeit zu Zeit tastete ich die untere Etage meines Körpers ab oder bewegte den Fuß, um das einseitig angestaute Blut zirkulieren zu lassen. Aber es war eine kostspielige Angelegenheit: Es dauerte nicht lange, da folgte prompt ein Schlag auf meinen Hinterkopf, ausgeführt durch ihre freigiebigen Hände und begleitet von einem Schwall mannigfachster Ausdrücke, die selbst gegen die Redegewandtheit des großen Rhetorikers Zamakhshari[i] hätten antreten können. Und glauben Sie mir: der Arme wäre aufgrund seines unzulängliches Wissens kläglich gescheitert.
Sie nahmen mir die Augenbinde ab. Mir gegenüber saß ein dunkelhäutiger vierzigjähriger Mann, flankiert von weiteren Personen. „Weißt du, wo du bist?“, fragte er mich. „Nein“, antwortete ich. „Du befindest dich an höchster Stelle“, sagte er und ich glaube, er hatte sogar recht. Wir waren im dritten oder vierten Stockwerk des Gebäudes. Aber was hat das mit der Staatssicherheit zu tun? Er nahm einen Stift, schrieb auf einen kleinen Zettel das Wort „Gott“ und hielt das Blatt hoch, damit ich es lesen konnte. „Was ist das?“, fragte er. Mit einer Kopfbewegung bedeutete ich ihm, dass ich das Wort verstanden hatte. Er ließ das Blatt in seiner Schreibtischschublade verschwinden und fragte: „Wo ist Gott jetzt?“ Ich war etwas verblüfft und fand keine Antwort: „Gott ist jetzt in der Schublade, und ich bin hier“, sagte er. „Weißt du, wer ich bin?“, fragte er erneut. Auch darauf fiel mir keine Antwort ein. Ich wusste nicht, ob er Gott selbst ist oder jemand anderes, der seine Rolle spielt. Er holte einen Revolver aus der Schublade seines Schreibtisches hervor und legte ihn auf die Platte. „Die Leute da draußen“, fügte er hinzu, „sind mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Ich könnte dich töten und deine Leiche auf irgendeinen Müllhaufen werfen, ohne dass es jemand bemerken würde. Glaub’ mir, kein Mensch würde nach dir fragen. Es ist also besser, du gestehst!“
Das ist, woran ich mich noch erinnern kann. Oder zumindest glaube ich, dass es sich so zugetragen hat. An alles andere, was danach kam, kann ich mich nur verschwommen erinnern. Sechs Tage lang, quasi ohne Unterbrechung, bereiteten sie mir ein außerordentliches Fest. Sie ließen nur von mir ab, wenn ich eine Mahlzeit zu mir nehmen musste, oder wenn sie mich zum Laufen zwangen, damit meine Füße nicht allzu sehr anschwollen. Am ersten Tag gelang es mir fast eine ganze Stunde lang keinen Laut von mir zu geben. Danach bekam ich einen hysterischen Anfall und verlor die Kontrolle über meine Stimme. Ich begann, laut zu schreien und mich selbst und alle um mich herum zu beschimpfen. Erst versuchten sie, mich mit Schlägen zum Schweigen zu bringen. Dann entdeckten sie eine wirksamere Methode. Einer von ihnen stopfte mir meine Strümpfe in den Mund und knebelte mich mit der Augenbinde. Ich kann mich an den Namen des Mannes, der das Verhör durchführte, entsinnen: „Adil“, der Gerechte. Ehrlich gesagt, passte dieser Name überhaupt nicht zu ihm. Ich erfuhr seinen Namen durch ein Gespräch zwischen zwei Polizisten. Einer der beiden war Mitte vierzig und hieß Abdannabi. Der andere, ein gutaussehender junger Mann mit schulterlangem Haar, war pakistanischer Herkunft und um die zwanzig. Er hieß Sufyan. Er litt an einer Phobie namens Abdannabi, da dieser wiederholt versucht hatte, eine intime Beziehung mit ihm einzugehen. Aber Sufyan weigerte sich und drohte damit, Major Adil davon in Kenntnis zu setzen. Drei Kapitel aus „Gott nach zehn Uhr, Erzählung eines Gefangenen im Ruhestand“, von Ali al-Jallawi. Bahrain. Ali al-Jallawi ist Schriftsteller und Lyriker. Bisher wurden sechs Lyrik-Sammlungen veröffentlicht und zwei Sachbücher. Darunter die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Bahrain. Deutsche Erstveröffentlichung in inamo Nr.60, Winter 2009, Jahrgang 15. Aus dem Arabischen von Magda Barakat.
[i] Zamakhshari, gestorben 1144, Philologe und Korankommentator in Khorasan.(Anmerkungen 1 und 2 von M. Barakat).
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